Deduktion
Ausbildung und Arbeitsgestaltung

Der Anreiz zu arbeiten, entspringt in Kropotkins Thesen dem von Geburt an vorhandenem Drang nach gegenseitiger Hilfe und Unterstützung der Menschen. Dieser müsse durch geeignete Arbeitsgestaltung und entsprechende Ausbildung gefördert werden. Verheerend wirken sich nach seiner Ansicht nicht nur das schon erwähnte Lohnsystem aus, sondern insbesondere das Prinzip der Arbeitsteilung verhindere es, Arbeit zu etwas angenehmen zu machen. In seiner Kritik an Adam Smith schreibt er:

"Was aber die Fragen betrifft, ob der Schmied, der während seines ganzen Lebens dazu verdammt ist, Nagelköpfe zu machen, nicht jegliches Interesse an seiner Arbeit verliert, ob er mit dieser begrenzten Arbeit nicht einzig seinem Arbeitgeber nützt, ob er nicht bald vier Monate von zwölf wird feiern müssen, und ob sein Lohn nicht schnell sinken wird, sobald man ihn durch einen Lehrling ersetzen kann, Smith hat nicht an sie gedacht (Kropotkin, 1989: 145)."

In der Arbeitsteilung sieht er kein Mittel der Produktivitätssteigerung, sondern ein Übel, welches die Menschheit durch die Abstumpfung von Intelligenz und Erfindungsgabe in ihrem Fortschritt aufhält. "Der Arbeiter, dessen Tätigkeit durch fortwährende Arbeitsteilung spezialisiert worden ist, hat das Interesse an seiner Arbeit verloren, und besonders ist dies der Fall in der Großindustrie: er hat seine erfinderischen Kräfte verloren (Kropotkin, 1921: 164)."
Besonders fatal wirkt sich hierbei seiner Ansicht nach die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit aus. Aufgrund dieser Trennung ist seiner Einschätzung nach der Fortschritt des 19. Jahrhunderts vergleichsweise gering einzustufen. Die Wissenschaft habe zu den wenigen zukunftsweisenden Impulsen wenig beigetragen; diese seien von technischen Neuerungen ausgegangen, denen die theoretischen Erklärungen lediglich folgten.
Die Verbindung von Wissenschaft und Handwerk ist für den technischen Fortschritt unabdingbar, für welche wiederum eine neue Form der Ausbildung nötig sei (Kropotkin, 1921: 163 ff.). Kropotkin fordert eine éducation intégrale (Kropotkin, 1921: 166). Diese Form der Ausbildung spiegelt die Ablehnung einer Spezialisierung in der Arbeitswelt wieder, im Zentrum solle eine Vermittlung von Grundlagen und Fähigkeiten stehen. Insbesondere das Erkennen und Beurteilen von Problemstellungen solle vermittelt werden. Der Ausbildung kommt auch die Funktion zu, in der emotionellen Einstellung zur Arbeit den natürlichen Schaffensdrang zu fördern. Er geht in diesem Zusammenhang ausführlich auf Erziehungsexperimente seiner Zeit ein, welche mit einer derart ausgerichteten Bildung offenbar gute Erfolge erzielten (Kropotkin, 1921: 165 ff.).

Kropotkin fordert ein entdeckendes, anschauliches und handelndes Lernen (Hug, 1989: 82). Seine Kritik an den herkömmlichen Lehrmethoden, erscheint auch heutzutage vertraut:

"Wir gewöhnen sie an die schlechtesten Methoden des Lernens; selbständiges Denken vernichten wir im Keime, und in den seltensten Fällen erreichen wir ein wirkliches Erfassen der Dinge, die wir lehren. Oberflächlichkeit, papageienhaftes Wiederholen, Sklaverei und Gedankenträgheit sind die Erfolge unserer Erziehungsmethode. Wir lehren unsere Kinder nicht wie zu lernen (Kropotkin, 1921: 172)."

Doch es genügt nach Kropotkin nicht, das Lohnsystem und die Arbeitsteilung zu beseitigen und das Ausbildungswesen zu reformieren, zusätzlich seien auch die Arbeitsbedingungen zu verbessern, um alle fähigen Menschen freiwillig zu denen von ihm für nötig erachteten vier bis fünf Stunden tägliche Arbeitszeit zu bewegen. Bezüglich dieser Verbesserung vertraut Kropotkin völlig auf den technischen Fortschritt, dank diesem sieht er die "abstoßende und ungesunde" Arbeit verschwinden, wodurch der Mensch zufriedener und dadurch produktiver werde; psychologische Effekte spielen erneut eine wichtige Rolle (Kropotkin, 1989: 91 ff.); eine detaillierte Vorstellung, wie in der Zukunft Maschinen dem Menschen eintönige und unangenehme Arbeit abnehmen werden, beschreibt Kropotkin bezüglich der Hausarbeit: Er beschreibt Visionen von Spülmaschinen, Schuhbürstmaschinen, automatischen Teppichklopfern, Zentralheizungen usw. (Kropotkin, 1989: 92-97). Hier zeigt sich jedoch seine begrenzte Fähigkeit als Visionär, die "Knechtschaft am Herde (Kropotkin, 1989: 92)", soll bei ihm lediglich durch Maschinen beendet werden: "Die Frau emanzipieren heißt, sie von der abstumpfenden Arbeit der Küche und des Waschhauses befreien", die Erziehung der Kinder bleibt allerdings in Frauenhand (Kropotkin, 1989: 97).
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