Wirkung Kropotkins in Deutschland
In Deutschland erreichten die Bücher Kropotkins zwar relativ hohe Auflagen - "Mutual Aid", 1908 in Leipzig erschienen, hatte zwölf Jahre später eine Auflage von 20. 000 Stück - der Erfolg konnte sich allerdings nicht mit den englischen bzw, französischen Orginalausgaben messen, von einer bedeutenden Wirkung kann nicht gesprochen werden, das Werk ist immer nur im zweiten oder dritten Rang bekannt gewesen (Claessens, 1970; Kropotkin, 1993: 7).
"Die Deutschen sind ein Volk, das in hohem Maße von der Staatsidee durchdrungen ist" - schrieb Bakunin (zitiert nach Kramer, 1990: 143); Kropotkin sieht dies prinzipiell genauso; der Grund dafür liege u.a. in der späten nationalen Einheit der Deutschen, der deutsche Geist habe nie eine revolutionäre Kraft besessen. Er unterscheidet diesbezüglich die germanischen und die romanischen Kulturen. Die Stellung der Staatsidee in Deutschland ist für ihn auch der Grund, daß sich die Deutschen Intellektuellen eher der zentralen Planwirtschaft, als dem von ihm vertretenen libertären Kommunismus oder Anarchismus zuwandten (Hug, 1989: 114 f., Kropotkin, 1989: 52).
Es gab in Deutschland eine anarchistische Bewegung, die nicht unwesentlich von Kropotkin beeinflußt wurde, Kropotkin beteiligte sich sogar selber 1877 an der Ausarbeitung des Parteistatus einer anarchistischen Partei (Kramer, 1990: 146). Gustav Landauer, der Übersetzer der meisten Werke Kropotkins, Erich Mühsal und Rudolf Rocker waren wohl die bekanntesten deutschen Anarchisten, auch der Schriftsteller B. Traven (Ret Marut) engagierte sich in der deutschen anarchistischen Szene; 1919 kam es schließlich, unter Mitwirkung der Genannten, zu der kurzen Episode der bayrischen Räterepublik, der allerdings schnell von der Reichswehr ein Ende bereitet wurde (vgl. hierzu Seligmann, 1989). Das Ende des spanischen Bürgerkrieges 1937 bedeutete schließlich auch das Ende der anarchistischen Bewegung in Deutschland.
Das wiedererwachende Interesse in den 70er Jahren bescherte Kropotkin zwar eine Reihe von Neuauflagen seiner Werke (vgl. hierzu Hug, 1994 und Jenrich, 1988), in der alternativen Szene waren die radikaleren Thesen Bakunins und Netschajews jedoch wesentlich populärer, Kropotkin fand aufgrund seiner Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit weniger Anklang.
Es scheint so, als ob Kropotkins Werke in Deutschland fast keine Bedeutung gehabt haben, es gibt jedoch einige Indizien, die einen Einfluß auf Ludwig Erhard für möglich erscheinen lassen.
Die erste deutsche Übersetzung Kropotkins ist die seines Werkes "La Conquête du pain", es erscheint 1896 unter dem Titel "Wohlstand für alle" in Zürich und 1906 unter demselben Titel in Berlin. 1957 wählt Ludwig Erhard denselben Titel für sein Buch. Er nennt Kropotkin nicht, obwohl bekannt ist, daß er ihn kennt (Schiebler, 1993).
"Wenn er das erste Kapitel "Der rote Faden" überschreibt, ist das, ebenso wie die spätere Sentenz "Nicht vom Brot allein", die auch in Elisée Reclus' Vorrede zu Kropotkins Buch auftaucht, eine recht allgemeine Anspielung. Eine deutlichere Bezugnahme liegt aber vor, wenn Erhard den Faden wie folgt entrollt: "'Wohlstand für alle' und 'Wohlstand durch Wettbewerb' gehören untrennbar zusammen; das erste Postulat kennzeichnet das Ziel, das zweite den Weg, der zu diesem Ziel führt (Erhard, 1957, S. 9)", während es bei Kropotkin heißt: "Der Wohlstand für Alle ist das Ziel, die Expropriation das Mittel." Wollte Erhard also eine Art Anti-Kropotkin schreiben? (Schiebler, 1993)"
Kaum - eine nähere Berachtung zeigt eine Reihe von Gemeinsamkeiten von Erhards und Kropotkins Ansichten, die man zunächst nicht vermuten würde: Da ist zunächst der Wachstumsglaube; Während Kropotkin in Anspielung auf Malthus glaubt, daß die Produktionskraft viel schneller wächst als die Population der Menschen, wählt Erhard das taylorsche Bild des Kuchens: "Es ist sehr viel leichter, jedem einzelnen aus einem immer größer werdenden Kuchen ein Stück zu gewähren, als einen Gewinn aus einer Auseinandersetzung um die Verteilung eines kleinen Kuchens ziehen zu wollen"(Schiebler, 1993).
Erhard teilte mit Kropotkin eine Vorliebe für selbstorganisierende, dynamische Systeme, den Staat möchte er zwar nicht abschaffen, aber zumindest aus der Wirtschaft möglichst heraushalten. Kartelle und Monopole sind zu zerschlagen, um das freie Spiel der Marktkräfte sicherzustellen (Hentschel, 1996 nach Piper, 1996: 22) . Ebenfalls in Lohn- und Mitbestimmungsfragen, in bezug auf die individuelle Freiheit und bezüglich der Priorität, die den Verbraucherbedürfnissen eingeräumt wird, gleichen sich Kropotkins und Erhards Thesen (Erhard 1969, S. 10, 14 f., 18). Wenn Erhard schreibt, daß er "die alte konservative soziale Struktur endgültig überwinden (Erhard, 1957: 7)" und eine "Sozialisierung des Fortschritts und des Gewinns (Erhard, 1957, S. 8)" bewirken möchte, könnte man diese Zitate eher Kropotkin zuschreiben, als dem christdemokratischen Wirtschaftsminister (Schiebler, 1993).

Man weiß, daß Erhard auf der Grundlage der Arbeitsweltlehre bei Franz Oppenheimer promovierte; man könnte also auch hier die Quelle für die Anklänge an einen genossenschaftlichen Sozialismus in Erhards Wirtschaftsauffassung suchen (Piper, 1996: 22); obwohl es auffällig ist, daß Erhard Kropotkins Titel für sein Buch wählt, wird man wohl nie die genaue Bedeutung von Kropotkins Thesen für Erhard und damit auch für die Entstehung der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland feststellen können, die jüngst erschienene erste umfassende Biographie Erhards von Hentschel nennt Kropotkins Namen nicht ein einziges mal (Hentschel, 1996). Dennoch sieht die FAZ (9. 1. 1993) in Kropotkin den direkten Voläufer Ludwig Erhards und in der sozialen Marktwirtschaft, in der Monopole und Kartelle zerschlagen sind, gar die "geniale Idee einer geordeten Anarchie"; weiter heißt es:

"Es zählt zu den Paradoxien der Geschichte, die oft phantastischer verläuft, als man vorher glaubt, daß ein aus einfachen Verhältnissen stammender "kapitalistischer" Wirtschaftsminister und späterer "Volkskanzler" ein gut Teil der Rechte und Reichtümer zu erlangen half, die der Abkömmling eines alten smolenskischen Adelsgeschlecht, der sich der Aufgabe widmete, das Los der Bauern und Arbeiter zu verbessern, visionär vor Augen gestellt hatte."

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